Martin Luther University Halle-Wittenberg

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Ziele des Verbundprojektes

[Aus der Vorhabenbeschreibung des Verbundprojektes]

Das interdisziplinäre Projekt, das in intensiver Zusammenarbeit von Informatikern, Germanisten, Historikern und Soziologen durchgeführt wird, zielt auf die wissenschaftliche Weiterentwicklung innovativer Methoden der (anwendungsbezogenen) semantischen Netzwerkanalyse und Netzwerkvisualisierung und versucht, ausgehend hiervon genuin geistes- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen aus dem Bereich der Exil-, Brief- und Kommunikationsforschung zu beantworten. Dabei wird es zum einen darum gehen, Kategorien und Instrumentarien der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung unter Einbeziehung und Weiterentwicklung informationstechnologischer Verfahren auf ein geisteswissenschaftliches Textkorpus anzuwenden. Zum anderen soll ein neuer Blick auf den Brief als biographisches wie zeithistorisches Zeugnis der Epoche zwischen 1933 und 1945 geworfen und damit zugleich eine neue Perspektive auf den „Alltag des Exils“ eröffnet werden.

Zentrale Ziele des Projekts:

  • die Entwicklung von Verfahren zur inhaltlichen Erschließung großer Korrespondenznetze. Grundlegend hierfür ist die wissenschaftlich anspruchsvolle Aufgabe der Entwicklung einer formalen Modellierung des Mediums Brief, die möglichst alle für Briefe wesentlichen Aspekte berücksichtigt und in ihrer technischen Umsetzung die Ausgangsbasis für eine effiziente Analyse bildet. Im Anschluss an die theoretische Modellierung sollen interaktive Annotationswerkzeuge bereitgestellt werden, die es den Geisteswissenschaftlern ermöglichen, eine detailreiche semantische Annotation und Analyse von Briefkorpora durchzuführen – nicht nur rein manuell, sondern unterstützt durch teilautomatisierte Verfahren. Aufgrund der enormen Menge an Briefen besteht die Herausforderung insbesondere darin, gleichzeitig der Quantität der Daten gerecht zu werden und dennoch eine sehr detaillierte thematische Auszeichnung vornehmen zu können. Um das Ziel einer umfassenden inhaltlichen Erschließung der Korrespondenznetze zu gewährleisten, müssen von geisteswissenschaftlicher Seite speziell auf den Themenbereich des Exils abgestimmte Indices entwickelt werden.
  • die Konzeption und Realisierung einer modularen interaktiven internetbasierten Plattform zur Erforschung und Visualisierung von sozialen, räumlichen, zeitlichen und thematischen Kommunikationsnetzen in Briefkorpora.

Die zur Ergebnispräsentation eingerichtete interaktive Forschungsplattform wird verschiedene Visualisierungsangebote und leicht verständliche und intuitiv nutzbare Bedienungsmöglichkeiten bieten. Über diese Plattform sollen sehr große Datenmengen so recherchierbar werden, dass der Nutzer in der Lage ist, aus verschiedenen Perspektiven Fragen an Korrespondenznetze zu formulieren und in Interaktion mit der Plattform Antworten auf seine Fragestellungen zu finden. So sollen die anschluss- und ausbaufähigen Analyse- und Visualisierungswerkzeuge es dem Wissenschaftler etwa ermöglichen, verschiedene, auf die jeweils konkrete Forschungsfrage angepasste Sichten auf sein Briefkorpus zu erzeugen und so Zusammenhänge zu ermitteln und Prozesse abzubilden, nachvollziehbar, erfahr- und erforschbar zu machen, die aufgrund der Fülle und Komplexität des Materials sonst nur schwer erkennbar wären. Ausgehend von Person, Raum, Zeit und Thema sind diverse, durch den Nutzer konfigurierbare Visualisierungsmodule geplant. Neben zoombaren und interaktiven geographischen Karten und dynamischen Zeitleisten soll die Darstellung personenbezogener und themengesteuerter Netze möglich sein. Diese Module sind mit den Brieftexten verknüpft und werden vom Nutzer steuerbar miteinander interagieren, so dass beispielsweise an ein Briefkorpus folgende Fragen gerichtet werden können: Wer hat mit wem korrespondiert? Wer hat mit wem wann korrespondiert? Wer hat mit wem über welches Thema korrespondiert? Wer hat mit wem wann über welches Thema korrespondiert? Lassen sich im Korrespondenznetz eines Autors geographische oder zeitliche Knotenpunkte ausmachen? An welchen Orten bündeln sich welche Themen? In welchen Zeiträumen waren welche Themen wichtig? Welches Thema floss wie durch das Korrespondenznetz bzw. wie breitete es sich bezogen auf die Personen/Orte zeitlich im Korrespondenznetz aus? Wie wird es unter spezifischen historischen Bedingungen und in einem bestimmten kulturellen Umfeld formiert, ausgetauscht und transformiert? Mittels der genannten Analyseverfahren, Erschließungs- und Visualisierungstools können also zunächst Aussagen über die Beschaffenheit (Funktionsweise/Kommunikationsstruktur) des Netzwerkes insgesamt bzw. einzelner Teilgraphen (Gruppen/Cluster) abgeleitet werden.

Ausgehend hiervon soll dann als genuin geisteswissenschaftliches Ziel

  • die exemplarische Erschließung und Untersuchung eines Briefkorpus deutschsprachiger Autoren erfolgen, die durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten aus ihrer Heimat und ihrem vertrauten sozialen Netz vertrieben und ins Exil gezwungen wurden, eine Art von Mobilität, die überaus bedeutsam für die Herausbildung einer Korrespondenznetzlandschaft ist.

Indem die oben formulierten Fragen an das Korpus gerichtet werden und auf der Inhaltsebene nach möglichen Gründen für die durch die Netzwerkanalyse offenbar gewordenen Phänomene gesucht wird, erfolgt ein Brückenschlag hin zur qualitativen Auswertung des Netzwerks. Die Briefe werden nun hinsichtlich ihrer netzwerkbildenden Maßnahmen und deren Funktionen erforscht. Welche Bedeutung nimmt die Briefkommunikation für einzelne Autoren ein und wie bestimmt sie die Exilsituation insgesamt? Wie werden Briefe zur Stabilisierung alter und für die Etablierung neuer sozialer Netzwerke eingesetzt und welche kommunikativen oder sprachlichen Mittel dienen dem Networking im Exil? Gibt es Brüche in den Netzen, kommt es zu Kontaktabbruch und ggf. zur Wiederaufnahme des Kontakts? Werden einzelne Briefe zu zentralen Knotenpunkten innerhalb des Netzes?

Anschließend an die „äußere Form“ des Netzwerks soll auch nach den Gründen für die spezifische Beschaffenheit der Korrespondenznetzlandschaften geforscht werden: Warum entstehen besonders starke Verbindungen, weshalb findet Separierung statt? Wie kommt es dazu, dass einige Personen Zentralpositionen einnehmen? Warum wird ein Thema besonders schnell innerhalb des Netzwerks gestreut, wogegen ein anderes im Nichts verläuft? Überdies konzentriert sich das Projekt auf die Analyse der Verarbeitung tiefgreifender biographischer Einschnitte durch briefliche Kommunikation: Wie werden Momente des Übergangs, Wendepunkte, Brüche oder existenzielle Grenzerfahrungen beschrieben? Herausgestellt werden soll außerdem, welche Themen und Diskurse innerhalb des Korpus virulent sind: Wie gehen die Briefautoren mit der nationalsozialistischen Machtergreifung um? Wie reagieren sie auf die neue Lebenssituation? Bewerten sie die Exilierung, den möglicherweise damit verbundenen Verlust der materiellen Existenzgrundlage, die Trennung von der gewohnten sprachlichen Umgebung, den Mangel an vertrauter gesellschaftlicher Gegenwart, die Herauslösung aus dem identitätsstiftenden Kontext ausschließlich als Verlust oder gewinnen sie der neuen Existenzform auch positive Seiten ab? Das Projekt untersucht also auch die Ausbildung neuer (Selbst)Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der brieflichen Selbstreflexion sowie die Bedeutung von Briefen als Vermittlungsinstrument zwischen altem und neuem sozio-kulturellen Kontext.

Den Kern dieses Korpus bildet der 1964 von Hermann Kesten herausgegebene Band Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, in dem Kesten (1900–1996), der 1933 selbst aus Deutschland geflohen war, 59 eigene und 239 an ihn gerichtete Briefe u. a. von Hermann Broch, Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Annette Kolb, Heinrich Mann, Thomas Mann, Joseph Roth, René Schickele, Anna Seghers, Ernst Toller, Franz Werfel, Carl Zuckmayer, Arnold und Stefan Zweig versammelt und um kurze, zumeist biographische Kommentare zu den Briefautoren und den in den Briefen genannten Personen ergänzt hat. Dieser Nukleus, der beispielhaft die Vernetzung der Autoren demonstriert, wurde im Rahmen eines vom Forschungsfonds 2011 der Universität Trier geförderten Projekts digitalisiert und sukzessive ergänzt um Briefe der Korrespondenzpartner Kestens und wieder deren Korrespondenzpartner, um auf diese Weise ein Exilantennetzwerk aufzubauen, das derzeit über 3.000 Briefe umfasst.

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